Der Large Hadron Collider (LHC), auch Weltmaschine genannt befindet sich in einem unterirdischen, knapp 27 Kilometer langen, ringförmigen Tunnel aus 70.000 Tonnen Stahl. Darin sind eine umlaufende Vakuumröhre sowie rund 9.600 Magnete installiert. In ihr werden Protonen – Atomkerne bestehen aus Protonen und Neutronen – nahezu bis auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Supraleitfähige Magnete, sogenannte Dipolmagnete, führen den Teilchenstrahl bei extrem niedrigen Temperaturen durch den Ring. Sie laufen in supraflüssigem Helium, dessen sehr hohe Wärmeleitfähigkeit als Kühlmittel und zur Stabilisierung der supraleitenden Systeme genutzt wird. An mehreren Stellen prallen die Protonen kontrolliert mit Höchstgeschwindigkeit aufeinander – und beweisen damit die Richtigkeit von Einsteins Formel E = mc², Energie ist gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit im Quadrat. Diese Gleichung besagt, dass Masse in Energie und umgekehrt Energie in Masse umgewandelt werden kann. Aus der mit dem Teilchenbeschleuniger erzeugten Bewegungsenergie entsteht bei der Kollision der Teilchen Materie – unbekannte oder auch bekannte Teilchen. Detektoren beobachten und erfassen die Ergebnisse der Kollisionen, die von Wissenschaftlern anschließend mit Hilfe von unzähligen Computern in weltweiten Rechenzentren analysiert werden.
Schlüsselrolle für Edelstahl
Eine zentrale Funktion im Teilchenbeschleuniger haben hochevakuierte Strahlrohre aus Edelstahl, in denen die Kollisionen stattfinden. Um den Partikelstrahl auf Kurs zu halten, müssen sie allerhöchste Standards erfüllen. Im LHC dürfen nur solche Werkstoffe zum Einsatz kommen, die keinen Eigenmagnetismus aufweisen, also sehr remanenzarm sind. Zudem darf ihre Permeabilität gegen externe magnetische Einflüsse nur sehr gering sein, da im Vakuum die Bewegung elektrischer Ladungsträger durch Eigenmagnetismus umgebender Bauteile gestört wird. Andere Präzisionsrohre transportieren aus eigens dafür entwickeltem Edelstahl das höchst kritische Helium im Ultrahochvakuum. Diese Kühlrohre und Rohrkomponenten müssen extremen Temperaturen und Drücken – bis zu minus 270 Grad Celsius und 26 bar – standhalten und dürfen auch bei Tiefsttemperaturen nur eine sehr niedrige magnetische Permeabilität aufweisen. Die hohe mechanische Festigkeit und gute Verformbarkeit von Edelstahl erlaubt für diese Extrembedingungen Rohrkonstruktionen mit einem Außendurchmesser von 4,76 Millimetern bei einer Wanddicke von nur 0,53 Millimetern. Trotz der geringen Materialstärke gewährleisten die Präzisionsrohre absolut zuverlässige Dichtheit. Sie ist unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die Rohre ihre Aufgabe als Teil der Strahlengitter (Beam Screens), die in die Strahlenröhren der supraleitfähigen Magneten eingeführt werden, dauerhaft erfüllen.
Fotos: CERN
Die Werkstoffgüten 1.4404, 1.4429 und 1.4435 bieten die für einen Einsatz bei den Vakuumkammern sowie in der Nähe der Magneten geforderte extreme Belastbarkeit und Verschleißfestigkeit. Für Ultrahochvakuum (UHV)-taugliche, wassergekühlte Targetträger, schnell schließende Klappenventile, Schweißbaugruppenträger oder Kammern kommt hochfester Edelstahl mit einer relativen Permeabilität von unter 1,005 zum Einsatz. Edelstahl der Güte 1.4404 ist für die bis zu zwölf Meter langen HEB-Träger mit minimaler Permeabilität vorgeschrieben. Für ihren Einsatz im Temperaturbereich von minus 60 bis plus 100 Grad Celsius müssen sie aus einem Stück ohne Querverbindungen gefertigt sein. Aus nichtmagnetischem Hochleistungs-Edelstahl ist auch die Spulenhalterung, die die beiden Strahlrohre mit einem Innendurchmesser von 56 Millimetern umschließt. Er gewährleistet, dass die Struktur – trotz Zugkräften der magnetischen Felder im Tonnenbereich – ihre Stabilität bewahrt. Dichtungssätze aus Gummi und Edelstahl sorgen in den Armaturen zum Kühlen der Konverter, die zwischen 4.000 und 8.000 Ampere Strom für die Supraleiter-Magnete im LHC liefern, für einen leckagefreien Betrieb.
Gigantische Ausbaupläne in naher Zukunft
Ende 2018 wurde der LHC für zweijährige Wartungsarbeiten abgeschaltet. Parallel erfolgt mit dem HL-LHC-Projekt (High-Luminosity Large Hadron Collider) auf einer 1,2 Kilometer langen Strecke seine Aufrüstung mit stärkeren Magneten, der 2025 abgeschlossen sein soll. Hierdurch soll am CERN die Zahl der Protonenkollisionen von einer auf fünf Milliarden pro Sekunde erhöht werden, um Präzision und Datenausbeute der Experimente zu verdreifachen. Für die Konstruktion der Magnete des HL-LHC kommen warmgewalzte Edelstahlbleche der Güte 1.4429 zum Einsatz. Dieser nichtrostende austenitische Chrom-Nickel-Molybdän-Stahl mit Stickstoffzusatz paart hohe Korrosionsbeständigkeit mit guten mechanischen Eigenschaften. So widersteht er den hier herrschenden Temperaturschwankungen von minus 270 bis plus 640 Grad Celsius und minimiert durch seinen Molybdän-Gehalt die Gefahr einer Spannungsrisskorrosion. Das gewährleistet höchste Qualität und Belastbarkeit der Magnete bei engsten einzuhaltenden Toleranzen. Schon im Jahr 2020 wollen die 22 Mitgliedstaaten des CERN jedoch über den Bau eines gänzlich neuen, noch viel größeren Teilchenbeschleunigers in einem 100 Kilometer langen Tunnel unter dem Genfer See entscheiden. Der Future Circular Collider (FCC) soll 100.000 Mal leistungsfähiger sein als die bisherigen Anlagen am CERN und ab Ende der 2030er-Jahre Elementarteilchen auf Kollisionskurs bringen. Die bestehenden Anlagen des LHC und HL-LHC wird er dabei als Vorbeschleuniger nutzen. In seiner Endausbaustufe mit Protonenbeschleuniger soll er ab 2055 die Kollisionsenergie und Anzahl der Kollisionen im HL-LHC-Projekt um Faktor zehn übertreffen.
Ob im LHC, HL-LHC oder bei dem geplanten Giga-Teilchenbeschleuniger FCC: Für Magnete, Superleiter, Strahlengitter, Vakuumverbindungen, Kryostate oder elektronische Systeme werden große Mengen an Bändern, Blechen und Komponenten aus diversen Edelstahlgüten eingesetzt. Dazu zählen auch ausziehbare Modulträger mit werkzeuglos zu befestigenden Modulen für die Multimode-Verkabelung oder Energieketten zum Einbringen der Energie in die Hochtechnologieanlage. Die Auflistung von Komponenten aus hochfestem nichtmagnetischem Edelstahl im CERN ließe sich noch lange fortsetzen und beweist: Experimentelle Teilchenphysik braucht nichtrostende Hochleistungsstähle schreibt weiterhin an der einzigartigen Erfolgsgeschichte des CERN mit.