Guten Tag, Frau Friedrich. Wann ist eine Oberflächenhärtung für Edelstahl von Vorteil?
Alexandra Friedrich:
Rostfreie austenitische und Duplex- Edelstähle vereinen je nach Legierungszusammensetzung eine ausgezeichnete Korrosionsbeständigkeit mit hoher Zähigkeit. Doch ihre vergleichsweise geringe Härte – und damit verbunden geringe Verschleiß- und Abriebfestigkeit – begrenzen die technischen Einsatzmöglichkeiten stark. Um dies zu verbessern, können betriebliche, geometrische oder materialseitige Änderungen vorgenommen werden, die jedoch meist mit hohem Aufwand und entsprechenden Kosten verbunden sind. Eine alternative Lösung für eine harte, aber dennoch duktile Oberfläche ist daher die Oberflächenhärtung von Edelstahl, bei der das Bauteil ohne Anpassungen, dafür aber mit wesentlich verbesserter Verschleißbeständigkeit, in die bisherige Anwendung eingefügt werden kann.
Welche Möglichkeiten der Härtung gibt es?
AF:
Generell gelten rost- und säurebeständige austenitische und Duplex-Stähle mit den klassischen Härtemethoden als nicht härtbar. Wärmebehandlungen auf Diffusionsbasis führen zwar zu einer Härtesteigerung, gehen aber auch meist mit dem Verlust der Korrosionsbeständigkeit einher, da sich unerwünschte Ausscheidungen bilden. Durch Kaltverfestigung ist es möglich, die Festigkeit – unter meist nur geringer Beeinflussung der Korrosionsbeständigkeit – zu erhöhen. Jedoch sind die erreichbaren Härten für technische Anwendungen in vielen Fällen nicht ausreichend. Beschichtungen können die Widerstandfähigkeit verbessern, allerdings gehen mit dieser Methode unter anderem meist die Änderung der Bauteil-Geometrie sowie das Risiko von Abplatzungen einher. Es braucht Alternativen, um Funktionsteile sowohl vor Verschleiß als auch Korrosion zu schützen. Diese Möglichkeit wird durch die „Specialty Stainless Steel“-Prozesse von Bodycote gegeben. Andere geläufige Begriffe für diese Verfahren sind „S³P-Technologien“ oder „Kolsterisieren“.
Was ist das Besondere an Ihren Härteverfahren für rostfreie Stähle?
AF:
Bei den verschiedenen S³P-Verfahren wird die Werkstückoberfläche mittels Niedertemperatur-Diffusion mit Kohlenstoff und/oder Stickstoff angereichert. Dies führt zur enormen Steigerung der Oberflächenhärte. Gleichzeitig bleibt die Korrosionsbeständigkeit des Bauteils bei richtiger Werkstoffauswahl und Vorbehandlung vollständig erhalten und kann in bestimmten Fällen sogar verbessert werden.
Was genau geschieht bei der Härtung nach Ihrem Spezialverfahren?
AF:
Die zu behandelnden Bauteile werden einem Niedertemperatur-Diffusionsprozess ausgesetzt, in welchen große Mengen an Kohlenstoff und – beziehungsweise oder – Stickstoff im Atomgitter der rostfreien Edelstähle gelöst werden. Aufgrund der verhältnismäßig niedrigen Prozesstemperatur von weniger als 500 Grad Celsius und einer längeren Haltedauer im Werkstück kann die Bildung unerwünschter Chromkarbide und -nitride verhindert werden. Die Korrosionsbeständigkeit bleibt, im Gegensatz zu anderen auf Diffusion basierenden Verfahren wie dem Nitrieren oder Nitrocarburieren, bestehen. Die auf Zwischengitterplätzen gelösten Kohlen- oder Stickstoff-Atome führen zu einer bis zu 5-fach höheren Ober flächenhärte und großen Druckeigenspannungen. Die so modifizierte Randzone ist auch unter der Bezeichnung „expandierter Austenit“ beziehungsweise „S-Phase“ bekannt und beträgt je nach Verfahren, Grundwerkstoff und Oberflächenzustand 10 bis 40 Mikrometer. Der Kohlenstoffgehalt und die Härte innerhalb des Diffusionsbereichs nehmen von der Oberfläche zum Grundmaterial graduell ab und gewähren damit ein duktiles Werkstoffverhalten.
Eignet sich Ihre Oberflächenhärtung für alle Gefügezustände?
AF:
Die Oberflächenhärtung mittels Niedertemperatur-Diffusion kann an allen Arten von rostfreien Stählen angewandt werden – also nicht nur an den bereits genannten austenitischen und Duplex-Edelstählen, sondern auch an martensitischen und ausscheidungshärtbaren Edelstählen.
Für welche Anwendungsbereiche sind Ihre S3PProzesse besonders interessant?
AF:
Der Einsatzbereich von S³P erstreckt sich über alle Gebiete, wo korrosionsbeständige Werkstoffe zum Einsatz kommen, wie der Automobil-, Öl- und Gas-, Medizin- und Nahrungsmittelindustrie. Um ein Beispiel zu nennen: Anlagenkomponenten der Nahrungsmittelindustrie sind häufig stark abrasiv wirkenden Partikeln – etwa infolge des Kontaktes mit Nüssen, Erdbeeren oder Zahncreme –ausgesetzt. Diese können die Stahloberfläche aufrauen und bieten damit einen idealen Haftgrund für Bakterien. Durch den Einsatz von S³P sind die Bauteiloberflächen beständiger gegen Verschleiß. Die Reinigbarkeit ist hierdurch langfristig gegeben und die Gefahr durch anhaftende Bakterien wird reduziert.