Fachkräftemangel: Keine Zeit für alte Gewohnheiten und Standesdünkel

Die klassische Dienstleister-Kunden-Beziehung ist in einem elementaren Veränderungsprozess

Das im Juni von der Bundesregierung beschlossene Einwanderungsgesetz für eine schnellere und unbürokratische Einwanderung von Fachkräften war überfällig und macht Hoffnung. Der eklatante Fachkräftemangel in der Logistikbranche erreicht auch 2023 wieder eine noch nie dagewesene Dimension. Laut dem Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) fehlen in Deutschland aktuell 80.000 bis 100.000 Berufskraftfahrer. Und eine Studie der Technischen Universitäten Dresden und Würzburg-Schweinfurt zu Kapazitätsengpässen im Straßengüterverkehr geht davon aus, dass jedes Jahr weitere 30.000 Stellen in Deutschland unbesetzt bleiben.

Schon seit Jahren treibt der sich zuspitzende Kampf gegen den Fachkräftemangel auch Marcel Hergarten um. Der Geschäftsführer der Hergarten Gruppe, einem bundesweit führenden Logistikpartner der Stahlindustrie, ist froh, dass das brisante Thema es endlich wieder auf die Agenda der Politik geschafft hat. Er ist jedoch überzeugt, dass die politischen Weichen allein nicht ausreichen werden, um die Situation der Stahllogistik kurz- und mittelfristig signifikant zu entschärfen. Edelstahl Aktuell hat nachgefragt.

EA: Wie beurteilen Sie als Unternehmer in einer stark vom Fachkräftemangel betroffenen Branche das neue Gesetz zur Einwanderung von Fachkräften?

MH: Es ist ein äußerst wichtiger und längst überfälliger Schritt in die richtige Richtung. Schließlich ist es ein simples Rechenspiel, dass bei jährlich 30.000 zusätzlichen, unbesetzten Berufskraftfahrer-Stellen in unserer alternden Gesellschaft die auseinanderklaffende Lücke allein mit deutschen Fachkräften niemals zu schließen ist. Lieferketten und die nötige Infrastruktur zur Sicherung des gesellschaftlichen Wohlstandes waren nie instabiler. Das betrifft uns alle. Bis wir bei Hergarten allerdings eine signifikante Wirkung des Gesetzes spüren, wird noch viel Zeit ins Land ziehen. Zeit, die wir nicht haben.

EA: Was muss Ihrer Meinung nach in der Zwischenzeit passieren?

MH: Wir in der Hergarten Gruppe kämpfen unseren Kampf gegen den Fachkräftemangel weiter wie bisher. Das Thema beschäftigt uns jeden Tag. Natürlich vor allem im Recruiting, wo wir kontinuierlich neue Wege entwickeln, um auf den interessanten Job des Berufskraftfahrers aufmerksam zu machen. Dabei kämpfen wir ständig gegen das stark verankerte schlechte Image des Berufs und der Branche an. Hier dürfen wir nicht nachlassen. Hinzu kommt, dass die Stahllogistik eine Nische im Logistik-Sektor und gerade wegen der starken Spezialisierung auf gut ausgebildetes und motiviertes Personal angewiesen ist. Die Tätigkeiten eines Berufskraftfahrers sind geistig wie körperlich anspruchsvoll und sollten dementsprechend honoriert und wertgeschätzt werden. Auch das betrifft uns alle. Jeden einzelnen in der Bevölkerung und auch unsere Kunden, die Stahlindustrie.

EA: Ist das nicht vor allem Ihre Aufgabe als moderner Arbeitgeber?

MH: Das sehe ich zum Teil anders. Natürlich ist es meine Aufgabe als Arbeitgeber, für eine angemessene Bezahlung zu sorgen und dem Mitarbeiter aufzeigen, dass er ein wichtiger Teil des Teams ist. Ich mache deutlich, dass er mit seiner Arbeit einen bedeutenden Beitrag für den Wohlstand unserer Gesellschaft leistet und sorge für möglichst gute Arbeitsbedingungen. Mit welcher Einstellung ihm jedoch während des Arbeitstages andere Menschen begegnen, was er auf den übervollen Straßen in Deutschland erlebt, darauf habe ich keinen Einfluss. Die Menschen wollen Prime-Lieferungen, aber hassen LKW-Verkehr auf den Straßen. Sie wollen Lebensmittel aus der ganzen Welt, aber keinen LKW-Verkehr. Sie wollen Hightech-Produkte, aber keinen Stahltransporter auf der Straße. Und sie zeigen das mitunter deutlich. Genauso wenig kann ich die Arbeitsbedingungen für unsere Hergarten-Truppe an den Entladestationen beeinflussen. Oft herrscht auch dort gravierender Fachkräftemangel, so dass unsere Leute einspringen müssen. Beim Thema Fachkräftemangel in der Logistik sitzen wir also alle in einem Boot.

EA: Sie sprechen von einem Kampf an vielen Fronten?

MH: Genau. Die Politik muss die Weichen stellen. Wir als Logistikdienstleister kämpfen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln weiter. Übrigens auch monetär in beachtlichem Umfang. Wir investieren jährlich rund 300.000 Euro für Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel und die Entwicklung unserer Arbeitgebermarke. Einen Kampf, den wir nicht alleine führen können. Jeder einzelne sollte daher seine Einstellung zu LKW-Transporten und Fahrern hinterfragen. Sollte sich fragen, welchen Beitrag er selbst zu einer modernen Willkommenskultur gegenüber LKW-Fahrern in unserem Land beitragen kann. Denn Wertschätzung in monetärer und geistiger Form braucht jeder Mensch, der etwas für den Wohlstand unserer Gesellschaft leistet. Egal, ob es sich um eine Fachkraft aus dem In- oder Ausland handelt.

Und nicht zuletzt, muss es im Kampf gegen den Fachkräftemangel zu einem Schulterschluss zwischen Stahllogistik und Stahlindustrie kommen. Die Kosten, die beim Kampf gegen den Fachkräftemangel entstehen, müssen beide gemeinsam tragen, um auch in Zukunft lieferfähig zu bleiben. In einer Partnerschaft auf Augenhöhe mit den gleichen Zielen. Die kurzfristige Dienstleister-Kunden-Beziehung basierend auf einem reinen Preisvergleich hat ausgedient und ist meiner Meinung nach nicht mehr zukunftsfähig. Unternehmen werden dann erfolgreich sein, wenn sie zuverlässig und verbindlich liefern können, nicht wenn sie sich mit den günstigsten Frachtraten brüsten können. Gelingt es uns nicht, gemeinsam Fachkräfte zu rekrutieren und LKW-Fahrer zu binden, brechen die Lieferketten mittelfristig unausweichlich zusammen und der Stahl kommt gar nicht erst beim Weiterverarbeiter an. Abgesehen vom finanziellen Aspekt, muss auch die Stahlindustrie die wichtige Leistung der Berufskraftfahrer in anderer Form anerkennen. An vielen Stellen tut sich da bereits etwas, aber grundsätzlich müssen wir alle unsere Haltung gegenüber dem Berufsstand noch einmal dringend hinterfragen und klären, was wir über die heutigen Maßnahmen hinausgehend tun können. Die Abhängigkeiten entlang der Wertschöpfungskette verschieben sich, sind ständig in Bewegung. Das muss jedem klar sein.

EA: Das klingt nach deutlicher Kritik an Ihrer Kundschaft, oder?

MH: Nein, ich verstehe es eher als Appell. Wir müssen gemeinsam dafür kämpfen, dass qualifizierte und motivierte Fachkräfte gerne Höchstleistung abrufen und so ihren Beitrag zur Sicherung der Lieferketten erbringen. Ja und das kostet Energie und Geld. In Gesprächen mit unseren Kunden erläutere ich immer wieder diese gemeinsame Verantwortung, aber bisher lassen sich nur wenige positive Ausnahmen wirklich auf die Thematik ein. Zweifelsohne haben beide Seiten viel zu stemmen. Das Geschäft muss nachhaltiger gestaltet werden, die Energiekosten sind exorbitant und Prozesse müssen in einem rasanten Tempo digitalisiert werden. Hinzu kommen die ungleichen Marktentwicklungen in den beiden Branchen: Der Stahlhandel ist gegenüber den äußerst erfolgreichen Vorjahren derzeit rückläufig. Die LKW-Transport-Branche wiederum wird auch auf nicht absehbare Zeit mit steigenden Kosten und knappen Ressourcen konfrontiert. Das sind die großen Herausforderungen für beide Seiten. Wenn wir also unser Geschäftsmodell nicht auch in monetärer Hinsicht gemeinsam überarbeiten und partnerschaftlich modernisieren, bleibt der klassische LKW-Transport eines der größten Managementrisiken der Zukunft für Stahlhandel und -industrie.

EA: Sie haben vor einigen Wochen ein Interview mit Peter Brings von der Kölner Kultband Brings zu der Thematik geführt? Wie kam es dazu?

MH: Mit unseren kölschen Wurzeln haben wir in Peter Brings interessanterweise einen Sparringpartner gefunden, der sich einen tieferen Einblick in die Materie verschaffen wollte. Er hat ein phänomenales Verständnis für die Zusammenhänge und möchte sich für das auch aus seiner Sicht sehr wichtige Thema engagieren. Wir pflegen mit der Band inzwischen eine enge Kooperation. Gemeinsam wollen wir dem Thema mehr Sichtbarkeit in der Bevölkerung geben. Ich wünsche mir sehr, dass sich noch mehr Menschen die Zeit nehmen, tiefer in das Thema einzusteigen.

 

+++ Erstveröffentlichung in Edelstahl Aktuell Ausgabe 7 – Oktober 2023. Um zukünftig solche und weitere Inhalte zeitnah und regelmäßig zu lesen, abonnieren Sie Edelstahl Aktuell kostenfrei. +++

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Catrin Senger
Catrin ist Redakteurin bei Edelstahl Aktuell. Stahl zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Berufsleben. Sie hat eine Ausbildung bei einem Großhändler für Rohr- und Rohrzubehör absolviert und in verschiedenen Funktionen bei einem Hersteller und Lieferanten von Analysegeräten für die Metallindustrie gearbeitet.