Verpasst die Stahlindustrie die Chance, den tiefgreifenden Wandel in der Stahllogistik mitzugestalten und sich so wertvollen Frachtraum zu sichern?
Leere Supermarktregale, stillstehende Produktionslinien, lange Warteschlangen vor den Tankstellen – es sind erschreckende Bilder, die uns diesen Herbst aus Großbritannien erreichen. Szenen, wie wir sie in Deutschland niemals erleben werden? Und erst recht nicht in der Wertschöpfungskette Stahl? Marcel Hergarten, Geschäftsführer der Hergarten Gruppe, einem Full-Service-Logistikanbieter für die Stahlindustrie, erwartet ähnliches für Deutschland. Edelstahl Aktuell sprach mit ihm über die Notwendigkeit des Umdenkens in der Stahlindustrie und die Entwicklung innovativer Geschäftsmodelle zwischen Stahlindustrie und Logistikdienstleistern.
EA: Herr Hergarten, könnten die Entwicklungen in Großbritannien nicht einfach eine Folge des Brexits sein?
MH: Natürlich spielt der Brexit eine Rolle, dennoch würde ich ihn eher als Beschleuniger beschreiben für einen alarmierenden Trend, der weltweit zu spüren und zu beobachten ist. Auf dem gesamten Globus wächst das Transportaufkommen rasant – zuletzt zusätzlich verstärkt durch die Corona-Krise. Frachtraum ist branchenübergreifend extrem knapp und damit auch deutlich teurer geworden. Zudem herrscht ein gravierender Mangel an Fachkräften, der trotz aller Bemühungen der Transportbranche aktuell kaum zu entschärfen ist.
EA: Von Zuständen wie in England sind wir in Deutschland aber noch weit entfernt, oder?
MH: Bei den Dingen des täglichen Bedarfs merken wir es noch wenig, aber das kann ganz schnell umschlagen. Schon seit Monaten nehmen Endverbraucher und Weiterverbarbeiter in Deutschland wahr, dass bestimmte Waren, Rohstoffe oder Vorprodukte schwer, gar nicht oder nur mit langen Lieferfristen zu bekommen sind. Davon sind auch die Stahlproduzenten und stahlverarbeitenden Unternehmen betroffen.
EA: Also zeigt sich die beschriebene Dynamik auch in der Stahllogistik?
MH: Ja, in der Stahllogistik verhält es sich genauso. Angefangen beim hohen und dazu noch stark spezialisierten Transportaufkommen, über die knappen Frachtraumkapazitäten, bis zum gravierenden Fachkräftemangel. Nach allen Regeln der Marktwirtschaft steigen also auch in Deutschland und auch in der Stahllogistik die Preise für Frachtraum und Transport.
EA: Sind das nicht großartige Aussichten für Ihr Geschäft?
MH: Jein, auch wir Stahlspediteure und -logistiker selbst haben deutlich höhere Kosten. Beim Wettbewerb um qualifizierte Fachkräfte müssen wir tiefer in die Taschen greifen. Wir investieren mit Nachdruck in die dringend notwendige Digitalisierung von Logistikprozessen und in klimaschonende Technologien. Außerdem fallen durch die steigenden Energie- und Treibstoffpreise weitere signifikante Kosten an. Wir und die anderen Unternehmen der Branche sind gezwungen, solche Investitionen zu kompensieren und dabei zugleich die eigenen Unternehmensziele nicht aus den Augen zu verlieren. Aus Unternehmersicht geht das nur mit einem Strategiewechsel. Für die Hergarten Gruppe bedeutet das konkret, dass wir uns von unserer in den letzten Jahren stark forcierten Wachstumsstrategie Stahl lösen und daran arbeiten, die angestrebten Gewinne und zusätzlichen Ausgaben der Gruppe über höhere Margen zu refinanzieren.
EA: Gehen Ihre Kunden diesen Weg mit?
MH: Davon gehe ich aus. Wenn wir verhindern wollen, dass die Wertschöpfungskette Stahl ins Stocken gerät und das schließlich auch die Endverbraucher zu spüren bekommen, müssen wir alle mit diesen Rahmenbedingungen konstruktiv umgehen. Es ist fünf vor zwölf. Stahlindustrie und -logistiker müssen gemeinsam raus aus der ohnehin immer ungemütlicher werdenden Komfortzone – nicht zuletzt wegen der gesellschaftlichen Mitverantwortung, die über das eigene Unternehmen und die eigenen Mitarbeiter hinaus geht. Aus unserer Sicht besteht der entscheidende Schlüssel zum nachhaltigen Erfolg für beide Seiten darin, gemeinsam neue Wege zu gehen. Einfach nur die Preise für Logistikdienstleistungen zu drücken, obwohl sich die Rahmenbedingungen für alle Beteiligten massiv geändert haben, ist viel zu kurzfristig gedacht. Vor allem in einem so spezialisierten Bereich wie der Stahllogistik, in der eigens dafür ausgebildetes Personal eingesetzt wird. Qualität bei gleichzeitiger Flexibilität hat ihren Preis. Ganz davon abgesehen, dass z. B. die Hergarten Gruppe als Full-Service-Logistikanbieter im Unterschied zu den oft günstigeren Internetspeditionen über einen nicht unerheblichen Anteil der knappen Frachtraumkapazitäten verfügt.
EA: Ein deutlicher Appell in Richtung Stahlindustrie, oder?
MH: Ja. Und der sollte nicht falsch verstanden werden. Mir geht es nicht darum, anzuklagen. Mir geht es darum, Veränderung anzustoßen, wachzurütteln, Ressourcen und Zukunft zu sichern. Und ich würde mir sehr wünschen, dass die Stahlindustrie sich für einen konstruktiven Austausch mit uns öffnet und wir gemeinsam Wege und Lösungen entwickeln, die für beide Seiten funktionieren. Im Zweifelsfall ist ‚thinking out of the box‘ gefragt. Die Zeit rennt. Wir jedenfalls starten noch in diesem Monat unsere Arbeit an einem innovativen Zukunftsmodell für die Bereitstellung und Buchung von Laderaumkapazitäten mit allen Nebenprozessen. Dabei werden wir strategische Partner, Marketingspezialisten und Branchenkenner einbeziehen. Alle unsere Kunden, Stahlproduzenten und Stahlhändler sind herzlich eingeladen, daran mitzuwirken.
EA: Und wenn niemand aus der Stahlindustrie dieser Einladung folgt?
MH: Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Seit Jahrhunderten ist die Stahlindustrie das Stehaufmännchen unter allen Industrien, das sich immer wieder neu erfunden hat. Warum also nicht auch dieses Mal in dieser so zukunftsweisenden Phase gemeinsam mit einem engagierten Partner?
EA: Was wenn Ihr Bemühen um gemeinsame, neue Lösungen doch noch scheitert?
MH: Als Unternehmer habe ich natürlich einen Plan B in der Schublade. Denkbar wäre z. B., dass die Hergarten Gruppe ihre Dienstleistungen und Services auch für Kunden aus anderen Wirtschaftssektoren zur Verfügung stellt. Industriezweige, die bereit sind, der Marktlage entsprechende Preise für Frachtraum zu zahlen. Keine präferierte Lösung, weil sie unsere langjährigen Stahlkunden in einen noch stärkeren Wettbewerb um Laderaum zwingt und die Logistikprozesse der Stahlindustrie verkomplizieren würde. Wir dürfen jedoch auch nicht die Entwicklung und Zukunftssicherung unserer eigenen Unternehmensgruppe aus den Augen verlieren.